Noch eine weitere Überlegung, weshalb Harley und Indian die Zündzeitpunktverstellung per Fliehkraftautomatik Ende der 30er nicht in die Serie übernommen haben könnten, wenn auch zugegebenermaßen etwas weit hergeholt. Dazu habe ich mir die tolle Grafik von Bernde aus dem Thread "Panhead kompletter Aufbau" ausgeliehen.
Die Auslenkung der Fliehgewichte kann nur linear der Drehzahl folgen. Das bedeuted, eine "Kurve" ist nicht möglich sondern nur die Beeinflussung vom Steigungswinkel der linearen Steigung durch verschiedene Fliehgewichte und Beginn (zwischen 500/min und 1000/min) und Ende (zwischen 1500/min und 2000/min) durch verschieden starke Rückholfedern. Diesen Verstellmöglichkeitsbereich symbolisiert in der Grafik die orangene und die gelbe (theoretisch ohne Reibung maximal mögliche) Zündzeitpunktverstell - Kennlinie.
Die Kennlinien, die der Motor wirklich maximal realisieren kann, symbolisieren in der Grafik die Kurven 1, 2, 3, 4. Festgelegt wird diese Kurvenschar durch geometrische Flammweglänge, Quetschkante oder nicht (siehe meine letzten 5 Bilder von Flathead bis Evo-Kopf), geometrisches VerdichtungsVERHÄLTNIS , Wärmeleitfähigkeit des Zylinderkopfes (von schlecht bei Grauguß wie bei Knuckle- und Ironhead, über Alu wie bei allen anderen, Luft- oder bis optimal bei Wasserkühlung), und last but not least, natürlich von der jeweiligen Oktanzahl des eingefüllten Benzins! Diese Kurvenschar stellt somit das KENNFELD dieser Motorkonstruktion dar.
Und DAS ist schon das ERSTE große Problem der Zündzeitpunktverstellung per Fliehkraftautomatik : Gehen wir davon aus, daß wir gerade den Betriebszustand der Kurve 1 bei 750/min eingestellt haben: Die orange Kennlininie gibt viel zu wenig Frühzündung, wenn wir mal annehmen, dass Kurve 1 das, was der Motor ohne Klingeln hergibt, darstellen würde.
Warum ist die zu geringe Frühzündung doof? Nun, weil jeder Ottomotor auf dieser schönen Erde 50% seiner Zylinderladung bei einer Kurbelwellenposition von 3 Grad bis 8 Grad nach OT fertig abgefackelt haben muß, BEI JEDER GASGRIFFSTELLUNG und unabhängig davon BEI JEDER DREHZAHL, damit optimal wenig Druck von den zweiten 50% bei Öffnen des Auslassventils ungenutzt in den Auspuff abzischt, statt Drehmoment zu erzeugen. Diese ersten 50% zwischen 3 Grad und 8 Grad nach OT erreiche ich in Berndes Grafik aber nur, wenn ich rechtzeitig zünde, nämlich mit dem Frühzündungswinkel, den, nehmen wir an, Kurve 1 bei 750/ min vorgibt. Das heißt, die orange Kennlinie der Zündzeitpunktverstellung per Fliehkraftautomatik verschenkt mir gerade bei 750/min, wo ich es am dringendsten brauche, einen Großteil des schönen Drehmoments, indem sie viel zu spät zündet und der ganze schöne Verbrennungsdruck somit ungenutzt durch den Auspuff rauscht.
In Zeiten vor elektronischer Zündung mit Motorsteuergeräten konnte die Zündzeitpunktverstellung per Fliehkraftautomatik aber nur die orangene bis theoretisch mögliche gelbe KennLINIE. Daher meine Theorie: Mit der manuellen Verstellung kann ich, wie beim Motorsteuergerät, die Zündzeitpunktverstellung entlang der Kurve 1 einregeln und so das maximale Drehmoment gerade bei niedrigen Drehzahlen rausholen, ich muß die Kurve 1 nichtmal im Kopf haben und brauche auch keinen Drehzahlmesser. Ich verstelle einfach immer so früh, bis der Motor klingelt und nehme die Frühzündung dann einen Hauch zurück, bis er gerade aufhört zu klingeln (so macht das das Motorsteuergerät mit den Klopfsensoren auch). Für die Verkehrsituation bis in die 50er Jahre ist das durchaus vorstellbar. Es ist halt einfach nur ein lästiger Optimierungsaufwand, der vom Verkehr ablenkt.
Leider ist das aber noch nicht der einzige Nachteil der Zündzeitpunktverstellung per Fliehkraftautomatik . Ich sprach ja von einer Kurvenschar als KENNFELD des richtigen Zündzeitpunktes: Welche Kurve im momentanen Betriebszustand des Motors gerade die richtige ist, entscheidet eben nicht nur die Drehzahl, sondern auch die Gasgriffstellung, sprich der Drosselklappenwinkel. Denn bei jeder Drehzahl im unteren bis mittleren Drehzahlbereich kann der Gasgriff fast zu oder voll auf sein. Wenn er fast zu ist, weil ich mit konstanter Drehzahl dahinbummle, kann durch den engen Spalt, den die Drosselklappe im Ansaugstutzen des Vergasers freigibt, nur wenig Luft angesaugt werden, der der Vergaser in Erfüllung seiner Funktion so wenig Sprit beimischt, dass das erforderliche Mischungsverhältnis von 13,6 kg Luft zu 1 Kg Benzin (fett) bis 14,9 kg Luft zu 1 kg Benzin (mager) eingehalten wird, weil der Motor außerhalb dieser Grenzen abstirbt. Das bedeuted aber: wenig angesaugte Luft wird von konstantem Verdichtungsverhältnis nur wenig auf sagen wir 20 bar verdichtet. Bei vollem Öffnen der Drosselklappe bei exakt dieser gleichen Drehzahl, wird soviel Luft angesaugt, dass diese auf sagen wir mal 60 bar verdichtet wird. Deswegen muß bei exakt gleicher Drehzahl bei den 20 bar Teillast deutlich früher gezündet werden als bei den 60 bar Vollast, weil das Gemisch bei 20 bar viel weniger erhitzt wird, weil sich statistisch viel weniger Moleküle in die Quere kommen und aneinander reiben und /oder miteinander chemisch reagieren, also die Verbrennung mit träger Flamme sich viel langsamer entlang des Flammweges bis an die Zylinderwand frißt als bei dem ultraheißen Gemisch mit 60 bar mit viel mehr Molekülen, die sich dadurch viel häufiger treffen. Bei 20 bar Deutlich früher zünden bedeuted aber, ich muß bei 750/min zum von Kurve 1 vorgebenen Zeitpunkt zünden. Wenn ich aber bei 750/min die Drosselklappe voll aufreiße, muß wegen der 60 bar beim sagen wir von Kurve 2 vorgebenen Winkel gezündet werden, die Annahme vorausgesetzt ich habe Aral Ultimate mit 102 Oktan eingefüllt: für Teillast bei 750/min brauche ich Kurve 1, bei Vollgas bei 750/min würde es bei Kurve 1 bereits klingeln und ich brauche Kurve 2. Und das bedeutet auch: Bei Vollast klingelt es mit der orangenen Fliehkraftverstellkennlinie in dem gesamten Drehzahl-Bereich, in der sie über Kurve 2 liegt, bei Teillast immerhin noch in dem gesamten Bereich, in der sie über Kurve 1 liegt
Und DAS ist EXAKT das ZWEITE große Problem der Zündzeitpunktverstellung per Fliehkraftautomatik. Die Fliehgewichte kriegen nur die aktuelle Drehzahl, aber nicht den aktuellen Drosselklappenöffnungswinkel mit. Deswegen tauschte die Zulieferindustrie Mitte der 70er die Fliehgewichte gegen eine Unterdruckdose im Ansaugstutzen aus, die von Harley gleich beim neuen Evo ab 83 installiert wurde, während der BMW-Zweiventiler als einziger außer Ural, Royal Enfield und Donghai bis 96 mit der Zündzeitpunktverstellung per Fliehkraftautomatik rumkrebste. Die Unterdruckdose kann nämlich sowohl auf den Unterdruck, den die aktuelle Drehzahl erzeugt, reagieren, als auch auf den, der durch den unabhängig davon eingestellten Drosselklappenwinkel entsteht. Das heißt, bei Einhaltung der vorgeschriebenen Spritqualität und sagen wir max. 25 Grad Außentemperatur kann diese Unterdruckdose über den gesamten Drehzahlbereich zwischen Kurve 1 und Kurve 2 verstellen und berücksichtigt nebenbei auch noch das Wetter
, nämlich Hochdruck oder Tiefdruck, gleichfalls den geringeren Druck im rauhen Hochgebirge gegenüber dem Niveau am Schönen Meeresstrand.
Die Kurvenschar zwischen Kurve 1 und Kurve 4 berücksichtigt aber auch noch die zu reduzierende Frühzündung bei geringerer Oktanzahl und /oder höherer Umgebungstemperatur. Das kriegt AUTOMATISCH nur noch ein Motorsteuergerät mit Klopfsensor hin ODER ANSONSTEN eine MANUELLE Zündzeitpunktverstellung , bei der das OHR DES FAHRERS den Klopfsensor ersetzt. Das bedeutet, wenn es über 30 Grad im Schatten ist, strahlender Sonnenschein
(Hochdruckwetter
), und ich habe nur 95-oktaniges Klingelwasser eingefüllt, klingelt es bei Vollgas im gesamten Drehzahlbereich, in dem die orangene Kennlinie der Fliehkraftverstellung über Kurve 4 ist, wenn ich eine solche eingebaut habe. Bei einem gusseisernen Flachkopp mit besonders tiefer Kurve 4 eine doch recht fragwürdige Verbesserung, weswegen die BMW-Flachköppe auch eine manuelle Zündzeitpunktverstellung hatten. Umso idiotischer die Fliehkraftautomatik bei der XA ...
Das bedeuted für Motoren mit Zündzeitpunktverstellung per Fliehkraftautomatik, ich kann diese durch eine elektronische Zündzeitpunktverstellung ersetzen, die EINE Kompromisskurve der Kurven 1 - 4 programmiert hat, denn sie hat ja weder einen Ansaugstutzendrucksensor, - temperatursensor, noch einen Klopfsensor. Ich kann also maximal EINE Kennlinie durch EINE Kurve ersetzen, wobei ich bei den marktüblichen eine der 4 Kurven wahlweise aktivieren kann (aber NICHT während der Fahrt, versteht sich).
Und nun meine Theorie: Harley und Indian wollten auf verschiedenen Märkten mit extremen Temperaturen und Wetterbedingungen (Hochdruck in der Wüste, Tiefdruck im Urwald) und unterschiedlichsten Oktanzahlen verkaufen und standen daher der Zündzeitpunktverstellung per Fliehkraftautomatik äußerst skeptisch gegenüber, hätte diese doch bedeuted, sie hätten eine Kennlinie für den schlechtest anzunehmenden Fall der Kurve 4 mittels Fliehgewichten und Rückholfedern einstellen müssen und damit ab Einführung gegenüber der bis dahin manuellen Verstellung bei den aktuellen Motoren für den Kunden spürbar eine Menge Drehmoment verschenkt. Davon konnten sie wohl auch das Militär überzeugen. Natürlich ist das alles reine Spekulation.
Was lernen die Nichttechniker unter Euch daraus, worauf ich schon öfters in diesem Thread hingewiesen habe: "MODERN" (hier: die Fliehkraftautomatik) ist NICHT IMMER automatisch auch TECHNISCH BESSER, sondern oft nur billiger oder bequemer. Heutzutage kommt auch noch dazu: Mit kostensparend primitivst möglichen Mitteln Emmissionsgrenzwertkonform.
Und, lieber Bernde, ich hoffe, Du bist mir nicht böse, daß ich Deine schöne Grafik etwas zweckentfremdet habe, aber die trifft es für meine vorgenannten Zwecke einfach auf den Punkt