Wie sah eigentlich die SV-Ventilsteuerung der Konkurrenz aus? Oder präziser gefragt: wie kam das Layout der Flatty-Sporty-Motorenfamilie eigentlich zustande? Ein genialer Geistesblitz von Bill Harley war es sicher nicht, sondern eher eine evolutionäre Weiterentwicklung und drastische Verbesserung der Konstruktionen des Wettbewerbs, wie wir hier schön sehen:
Foto 1: Nein, dies ist KEIN Indian-Motor, auch wenn er genauso aussieht, sondern der Reading-Standard-Motor, den Carl Gustafson für das kleine Start Up "Reading Standard" in der beschaulichen Kleinstadt Reading südwestlich von New York entwickelte. Für 1907 war dieser Motor absolut bahnbrechend, deswegen wurde Carl Gustafson auch 1911 von Indian abgeworben, da Firmengründer Hendee und sein Leitender Ingenieur Hedstroem sich zur Ruhe setzen und endlich Kasse machen wollten, nachdem sie eine der größten Fahrradfabriken des Landes mit zukunftsträchtigem Motorradgeschäft aufgebaut hatten. Der letzte von Indian , d.h. von Hedstroem selbstentwickelte Motor war ein zwangsgesteuerter IOE-V-Twin ( = gegengesteuert mit über Stösselstange und freilaufendem Kipphebel zwangsgesteuertem Einlassventil), der dem ersten IOE-Harley-V-Twin mit Einlassschnüffelventil technisch weit überlegen war (weswegen Harley auch alle Maschinen vom Modelljahr 1909  zurückkaufte und verschrottete!
 ), aber die beiden H´s erkannten, daß der Motor von Carl Gustafson seiner Zeit weit voraus war, denn er hatte einen voll gekapselten Ventiltrieb und weniger bewegte Teile als der IOE-Motor. Und so kam dieser Motor 1916 als "Indian Power Plus - Motor" heraus und blieb, bis zur Insolvenz 1954, der Standard-Motor von Indian.
Philosophischer Einschub für die unter Euch, die es interessiert:
Hieran sieht man wieder mal die unterschiedlichen Firmengene von Indian und Harley: Während Indian eine typisch amerikanische hektisch quartalsgetrieben handelnde Aktiengesellschaft war, deren Firmengründer das Ziel des "Kasse machens" schon bei der Gründung hatten, und die ab dem Börsengang das Risiko von Neuentwicklungen lieber start ups überließ, um diese bei Potential dann einzukaufen, war Harley ein Familienbetrieb europäischer Prägung mit langfristiger Planung, langen Modellzyklen, der Konzentration auf "sein Produkt Motorrad" (statt Kühlschränke, Kleinwagen  u.dgl. wie bei Indian) und vor allem der grundsätzlichen Eigenentwicklung seines Produktes, und ist es im Grunde irgendwie auch heute noch. Nur deswegen hat Harley wohl bis heute überlebt. Warum war Harley so europäisch geführt? Nun, in keiner der üblichen Publikationen steht, daß Milwaukee, von den geflüchteten forty eighters (nach der gescheiterten deutschen Revolution 1848 ) als neue Heimat ausgewählt,  DIE deutsche Stadt in den USA war, deren Einwohnerschaft 1890 zu 69% aus deutschen Einwanderern bestand
. Der Geist dieser Bevölkerung war schon sehr deutsch, so hatte Milwaukee von 1910 bis 1940, mit nur 2 Jahren Unterbrechung, einen sozialistischen Bürgermeister
 in den USA eigentlich undenkbar. Ihr könnt getrost davon ausgehen, daß in den Werkshallen von Harley Davidson in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutsch gesprochen wurde. Das erklärt die Liebe zum Produkt und seine beständige eigene Weiterentwicklung mit hochqualifizierten Facharbeitern, vor allem die eindeutig europäische Knucklehead mit ihrem ersten OHV Ventiltrieb eines amerikanischen Großserien-V-Twins mitten in der tiefsten Depression, als der Umsatz von 29 bis 33 AUF 10% eingebrochen war. Vielleicht ist der Name der Sportster 48 ja auch als versteckter Hintersinn eine Hommage an die forty eighters, die Milwaukee von einem verschlafenen Nest zu einer großen Industriestadt gemacht haben. Das man das patriotischen amerikanischen Lesern in einer amerikanischen Harley-Publikation nicht zumuten kann, kann ich noch nachvollziehen, aber das auch deutsche Publikationen nie diese offensichtlichen zeitgeschichtlichen Zusammenhänge darstellen, empfinde zumindest ich schon als arg oberflächlich.
Foto 2: Die Konkurrenz, hier Royal Enfield, kopierte diese Bauform recht bald, beließ es aber bis in die 30er beim offen laufenden Ventiltrieb.
Foto 3+4: Und hier nun zwei Fotos des Nockenwellengetriebes von unserer Scout 101, deren Abbildung ich bisher aber auch in jeder einschlägigen Publikation vermißt habe.
Foto 3: Carl Gustafson hatte mittig unter den Ventilschäften für Einlass und Auslass jedes Zylinders...
Foto 4: ... Â je eine gemeinsame (hier "aus Foto 3" herausgenommene) Nockenwelle mit nur einerÂ
für Einlass und Auslass gemeinsamen Nocke positioniert, insgesamt also zwei Nocken für 2 Zylinder, ...
Foto 3: ... von der der Auslass- und dann der Einlasshub durch um 90 Grad versetzte Rollenschlepphebel auf die Ventilschäfte der seitlich stehenden Ventile übertragen wurde. 90 Grad wegen der 1:2 Übersetzung von der Kurbelwelle(Zahnrad am unteren Bildrand) die somit für diese 90 Grad 180 Grad und damit genau den vollen Kolbenhub weiterdrehen muß, die den Beginn des Auslasstaktes (Ausslassventil soll öffnen) vom nachfolgenden Beginn des Einlasstaktes (Auslassventil soll schließen, Einlassventil soll öffnen) trennt.
Genial:
Foto 6: Beim Vergleich mit der Harley-Konstruktion von 1929 im vorhergehenden Post sieht man, wie schwer Harley in den 20ern die Indian-Motoren im Magen gelegen haben müssen, denen sie nichts vergleichbares entgegenzusetzen hatten. Um diesen einen eigenständigen SV-V-Twin entgegenzusetzen, der im Gegensatz zu vielen englischen SV-V-Twins der 20er nicht einfach nur abgekupfert war (siehe oben Royal Enfield), trieb Bill Harley für seine 29er-Neukonstruktion einen auch noch für heutige
 Zeiten wahnwitzigen Aufwand mit sage und schreibe 4 zahnradgetriebenen Nockenwellen. Vorteile waren:
- man konnte dem Einlass- und Auslassventil die eigentlich erforderlichen unterschiedlichen Nockenkurven verpassen, bis hin zu Ventilüberschneidung bei der späteren Sporty, was den enormen Weitblick von Bill Harley zeigt.
- man konnte bei Rennmaschinen in der Tat für jedes Ventil für jede Rennastrecke die geeignete Nockenkurve einbauen.
- der Rollenkipphebel-Klapperatismus mit seinen verschleißfördernden Seitenkräften auf die Ventilschäfte entfiel. Mit Rollenstößeln hielt Bill Harley, bis heute vorbildlich, aber auch wirklich jegliche Seitenkräfte vom Ventiltrieb fern. Wie man sieht, ergibt das für einen solchen, mit zeitgemäßen Maschinenelementen, Legierungen und Bearbeitungsverfahren aufgebauten Sportymotor auch heute noch eine schier unverwüstliche Konstruktion. Die mangelnde Standfestigkeit der 70er ist eben NICHT der grundsoliden, lehrbuchgerechten Konstruktion anzulasten, sondern  Maschinenelementen, Legierungen, Toleranzen (von ausgelutschten Werkzeugmaschinen) und Bearbeitungsverfahren aus den 30ern geschuldet. Das man es schon Anfang der 70er besser wußte und konnte, zeigt der XR 750-Motor, der in den 80ern Vorbild für den heutigen EVO-Sporty-Motor wurde, aber als Rennmotor kostenintensiv handgedengelt war. Die Investitionen in die erforderliche Modernisierung der für eine Großserie erforderlichen Produktionsanlagen wollte sich auch AMF offensichtlich nicht leisten.
 Wie (zugegeben schon öfters hier) gesagt
, der Sporty-Motor ist der authentischste (weil im Unterschied zum BT mit stringenter Tradition seit 1929 ohne technische Brüche behaftet) und technisch beste luftgekühlte Harley-VTwin.
Foto 3: Für die Ganz Genau-Hingucker:  Die beiden geraden Kipphebelarme im Vordergrund sind die Ventilausheber der Auslassventile zur Kickstarterleichterung.
Foto 5: Hier am Scout 101-Motor sieht man schön, daß Bill Harley 1936 bis auf die Verdopplung der Nockenwellen das Layout des Nockengetriebegehäuses einschließlich der Zahnradkaskade zum Antrieb der zwecks besserer Kühlung nun vor das Kurbelgehäuse verlegten Lichtmaschine ziemlich unverblümt von Indian abkupferte. Jeder Sporty-Motor trägt also auch einige Indian-Gene in sich.
Philosophischer Einschub:
Der Grund, warum Harley Indian technisch bis 1929 nachhinkte, war eben, daß Harley seine Triebstränge selbst entwickelte und nicht zukaufte, wie Indian, und dabei wie Mercedes im 20. Jahrhundert immer erstmal abwartete, wie sich eine neue Konstruktionsidee der Konkurrenz am Markt und in der Haltbarkeit entwickelte. Damit kannten sie aber auch das Potential ihrer Konstruktionen und konnten sie weiterentwickeln (wie vom D über den R zum W- über den K- zum XL-Motor) oder mit ihren Kenntnissen technische Durchbrüche wie den Knucklehead konstruieren. Bei Indian wurde nur typisch amerikanisch- an der Oberfläche (geschwungene Kotflügel) herumgemanaged, ohne das Potential seiner Triebstränge erkennen und ausschöpfen zu können. Im Ingenieurwesen kommt es nämlich auf die intimen Kenntnisse der lästigen Details an, um erfolgreich zu sein, eine Mühe, die sich Amerikaner aber auch so gar nicht gerne machen. Diese Kenntnisse konnte Bill Harley aber offensichtlich aus seiner deutschstämmigen Belegschaft abschöpfen.
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