Liebe Sportster,
ich warte schon seit seit einiger Zeit auf Deinen Nachruf, aber außer ein paar Randnotizen unter der Rubrik "Vermischtes" kommt in den großen Zeitschriften nichts, nichtmal in denen, die sich dem Thema "Klassik-Motorräder" widmen, wenn ich das mal mit den mehrseitigen Nachrufen 1996 auf den Zweiventilboxer-Boxer vergleiche. Da wird eher mehr über das gleichzeitige Ende der RE 500 Bullet berichtet. RE hat aber auch, dem Anlass angemessen , ein finales Sondermodell rausgebracht. HD will Dich wohl "in aller Stille" beerdigen. Da sich keiner der Profis berufen fühlt, versuche ich mich daran, Dir wenigsten hier im Forum einen Nachruf zu widmen.
Du hattest - fast einzigartig in der Motoradwelt, 9 Leben, wie eine Katze. Deshalb warst Du das letzte HD-Modell, dessen technisches Grundkonzept noch von Bill Harley persönlich entwickelt worden war, und zwar bereits 1929.
Du startetest Deine Karriere damals als "D45" mit Deinem ersten Leben. Weil Du bei den Flathead-V2 ein Nachzügler - gegenüber Indian sogar mit 10 Jahren Verspätung - warst, setzte Bill Harley gegenüber den stets knausrigen Davidson-Schotten ein Flathead-Super-High-Tech-Konzept mit damals einzigartigen 4 untenliegenden, zahnradgetriebenen Nockenwellen durch, die Du bis zum MJ 2020 als in all den Jahren immer noch einzigartig behalten hast, genauso wie die Hauptabmessungen Deines Kurbeltriebes mit 3 13/16 Zoll Hub. Dem zeitgenössischen Standard entsprechend hattest Du damals noch eine zweitaktartige Frischölschmierung. Selbst die Davidsons sahen 1929 ein, das ein reines "Me Too"-Produkt gegenüber dem großen Vorbild Indian Scout keine Chance im Markt gehabt hätte, zumal sie ja für die Verzögerung mitverantwortlich waren, hatten sie doch den jungen Ingenieur Arthur Constantine, der auf eigene Kappe ein kleines J-Modell mit bereits vollintegriertem Getriebe entwickelt hatte, 1925 vom Hof gejagt, sodass diese erste kleine V2-HD als "SuperX" beim großen Konkurrenten Excelsior des deutschen Immigranten Ignaz Schwinn aus Chicago rauskam. Darauf durfte Bill Harley wenigstens einen sportlichen Einzylindermotor entwickeln, der seine deshalb erstmals zwei unterliegenden, zahnradgetriebenen Nockenwelle an die letzte J-Version ab 1928 (der erste Twin Cam) und, verdoppelt, an die D45 vererbte. In dieser speziellen Konkurrenzsituation zur am Markt äußerst erfolgreichen Scout genehmigten die Davidsons Bill Harley sogar die Neuentwicklung eines 4-Gang-Schaltgetriebes (marktüblich war Dreigang) mit Sekundärkette rechts, wie bei der Scout, um das Sekundärritzel wechseln zu können, ohne den gesamten Primärtrieb abbauen zu müssen. Auch dieses geniale Feature hat Dir zu Deinen 9 Leben bis 2020 verholfen, erlaubt es seit 1992 doch zusammen mit dem schmalen Heckunterzug den Zahnriemenwechsel ohne Schwingenausbau, weswegen Du das wartungskostenärmste - nicht nur Zahnriemen -Motorrad der Welt geworden bist, mit dem nicht mal die MZ in dieser Disziplin konkurrieren kann.
Über die Zwischenstation "R" wechseltest Du 1937 in Dein zweites Leben als W, als Du von der 1936 herausgebrachten Knucklehead bis auf die OHV-Köpfe alle Hightech-Goodies erbtest, vor allem die Trockensumpfschmierung im geschlossenen Kreislauf, und den wunderschönen Art-Deco-Tank. Damit war ein weiterer Baustein für Deine außergewöhnliche Langlebigkeit gegründet, nämlich "Design" als wichtiges Element einer Motorradneuentwicklung zu erkennen. BMW versuchte sich zeitgleich mit dem luxuriösen Prototyp R7 am gleichen Art-Deco-Design, schreckte aber zurück und brachte mit der R5 zeitgleich wieder das altbekannte BMW-Funktionalitätsgeschwür. In 30 Prototyp-Exemplaren durfte Dich die Prototypenwerkstatt unter Bill Harley sogar als Protosportster mit den OHV-Köpfen der Knucklehead bauen. Das wurde den Davidsons dann aber doch zu bunt: war doch die Knucklehead gerade erst unter Ausnutzung aller OHV-Freiheitsgrade gegenüber Flatheads produktionskostensparend mit nur einer unterliegenden Nockenwelle entwickelt worden. Der wäre diese weltweit technisch führende Hochleistungskonkurrenz gar nicht gut bekommen. Also musstest Du noch bis 1957 auf die OHV-Köpfe warten.
Der bis auf die OHV-Köpfe konsequente Hightech-Tech-Weg mit robusten Eigenschaften bei gleichzeitig moderaten Herstellkosten brachte Dir Dein drittes Leben als Standard-Militärkrad WLA der US-Army im zweiten Weltkrieg in 88000-facher Ausfertigung. Die auf Anforderung des Pentagon parallel 1000-fach produzierte BMW-Raubkopie erwies sich als so unmäßig teuer, dass dafür jede Menge Kettenkits zum Wechseln an der WLA bezahlt werden konnten - ein idealtypisches Leiden des so hochgelobten "German Engineering" - Nach dem Krieg kehrtest Du als WL ins Zivilleben zurück.
Aus den konfiszierten Patenten von DKW (später MZ) aus Zschopau suchte sich HD zielsicher die RT125 zur Kopie als "Hummer" heraus, weil die seit 1940 den weltersten Motorblock mit angegossenem , also vollintegriertem Getriebe hatte. Da DKW als späteres Vorbild für die Japaner seit den 20er Jahren als einzige Marke das Ziel hatte, besonders Produktionskostengünstig bei Beibehalten der wesentlichen Funktionen zu konstruieren, erkannte HD das ungeheure Potential für preisgünstig im Markt zu positionierende Modelle und leitete 1952 Dein viertes Leben als K mit der Kombination aus WL-Motor und DKW-Motorblock ein. Selbst die preisgünstige klemmige Schaltscheibe der DKW aus Blech ersetzte die bisherige teuer zu fräsende Schaltwalze der WL. Von der RT 125 erbtest Du nach hohen Garantiekosten für Getriebe (die klemmige Schaltscheibe) ab MJ1954 das ohne Motorblockdemontage seitlich herausnehmbare Kassettengetriebe, was bei den kostenbewussten Japanern bis heute nurRennmotorräder aufweisen. Nachdem im verarmten zerstörten Nachkriegseuropa große V2-Motorräder als damalige "Supersportklasse" selbst für wohlhabende Leute - nicht nur in Deutschland mit Währungsreform 1948 und Lastenausgleichsgesetz 1954 (Vermögensabgabe) - sondern im ganzen Ostblock und im zerfallenden British Empire einfach nicht mehr bezahlbar waren, gingen bis auf HD alle V2=Premiummotorradhersteller pleite: Indian 1953, Vincent aus GB 1954, obwohl die auch gleich ab 45 von DKW den hochmodernen integrierten Motorgetriebeblock kopiert hatten und seit den 30ern den ersten V2 mit kostensparenden Pleuelfüssen nebeneinander bauten. Somit war HD plötzlich im Premiumsegment alleine auf weiter Flur und entwickelte dementsprechend den Big-Twin zum Tourendampfer weiter. Vor dem Krieg hatten die englischen V2 von John Alfred Prestwich (z.B.in der Brough Superior) und British Anzani mit den US-Herstellern die internationale Supersportklasse dargestellt, während BMW zusammen mit der Scout bei den kleinen Zweizylindern gegen die Hightech-Einzylinder aus GB (z.B. Radialventilkopf von Rudge) antrat. Ab 1937 brachte Edward Turner von Triumph als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise als gefährlich preisgünstigen Konkurrent einen sportlichen Reihentwin - der als "Speed Twin" der Stammvater aller Triumph-Zweizylinder wurde - heraus, der mit nur einem zu bearbeitenden Zylinderkopf und Zylinderblock viel kostengünstiger zu produzieren war und Potential für viel strömungsgünstigere Ansaugwege als Boxer und V2 bot. Auch der machte mit seinen Kopien von Norton und BSA spätestens ab 45 den sportlichen kostenintensiven V2 den Gar aus .
Gegen dieses leistungsstarke Leichtgewicht , aufgebohrt auf 650 ccm, hattest Du als K-Flathead selbst in der "Stroker"-Version KHK mit 883 ccm durch gigantischen Hub - den seitdem erst der M8 mit 114 cui wieder übertrifft - keine Chance. Daher rang man sich 1957 dazu durch, Dir endlich, endlich die schon 1936 konzipierten OHV-Köpfe zu geben, ironischerweise, weil wegen der kostspieligen und damit im preisbewussten Segment margenschwachen V2-Bauweise kein Geld für eine komplette Neuentwicklung da war. Zur Reduktion der Produktionskosten leider nur aus schlecht wärmeleitendem Gusseisen, vielleicht auch, um Abstand zu den Leichtmetallköpfen des Panhead zu waren.. So ergibt auch in der Technik manchmal minus mal minus Plus, denn aus Kostengründen behieltest Du den bis heute unvergleichlich aufwendigen Steuertrieb mit 4 unterliegenden zahnradgetriebenen Nockenwellen bei. Dein Hub von 3 13/16 Zoll wurde nach den Exzessen mit der KHK wiedereingeführt, und die 883 ccm wurden bis 2020 durch 3 Zoll Bohrung gegenüber den 2,75 Zoll der D45 erreicht. So warst Du in Deinem fünften Leben - unter dem neuen Namen "XL" für "Experimental Light Weight" - als supersportlicher V2 allein auf weiter Flur als Letzter Überlebender dieses Marksegmentes. Du wurdest das erste HD-Motorrad, das der junge Designer Willie G. Davidson für den Konzern seiner Väter gestalten durfte, und er brachte neben der exquisiten Technik diese zweite Wurzel Deiner Langlebigkeit mit seinem Jahrhundertentwurf 1958 zu voller Blüte: er stylte Dich als Scrambler XLCH, indem er Dir statt dem FatBob-Tourentank der Big-Twins den schlanken Art Deco-Tank der DKW SB200 der dreißiger Jahre auf das Rückratrahmenrohr setzte. Somit kombinierte er in nur selten zu verwirklichender idealtypischer Weise faszinierendes Design durch die gefährliche Eleganz der Wespentaille (Lücke zwischen Tank und Sitz) mit technischem Vorteil, weil bei scharfer Fahrweise der hintere Zylinderkopf seine Abwärme durch diese Lücke loswurde. Damit stelltest Du auch optisch die Eleganz des sportlichen Vorkriegszeit-V2 wieder her: Riesiger Hubraum gegenüber den Nicht-V2's, in einer ranken, extrem schlanken Maschine, durch das klassische Gabelpleuel so schlank wie ein Einzylindermotorrad. Dagegen wirkt jeder Vierzylinder und Boxer klobig. Bei welchem anderen Konzept kriegt man einen Motor mit mittlerweile 1200 ccm in ein Kleinkraftrad? Solche Gegensätze erlauben immer ein faszinierendes Design, Ihre Möglichkeit bedarf aber glücklicher Umstände und eines herausragenden Designers, der diese Möglichkeiten erkennt. Hinzu kommt Dein Sound, der (ab 1996 nur noch entkorkt) der böseste, schmutzigste, einfach pornöseste Sound der Motorradwelt ist , nicht phlegmatisch traktorartig wie die Big Twins, sondern aggressiv synkopisch treibend, etwa wie das Schlagzeugintro von "Hot for Teacher" von Van Halen. Du warst der wahre Rock'nRoller, weswegen Du zum Beispiel in "Killed bei Death" von Motörhead mitspielst.
Ab 1966 raubte Dir die exzessiv teure MV-Agusta als erster quer eingebauter Vierzylinder der Welt die Krone als leistungsstärkstes Superbike der Welt, die ursprünglich als reines Rennmotorrad "Gilera Rondine" 1937 die Rennstrecken der Welt eroberte und als Konzept bis dahin als viel zu teuer für die Serie galt. Erst Soichiro Honda modifizierte 1969 dieses Konzept, vor allem mit waagrechter Teilungsebene so, dass man es mit erträglichen Kosten in Serie produzieren konnte. 1972 brachte Fabio Taglioni von Ducati als direkten Konkurrenten die 750 Supersport heraus, die mit ihrem für schärfste Steuerzeiten ausgelegten, superexakten Ventiltrieb genausoviel PS produzierte wie der vierzylindrige Konkurrent Honda CB750. Als letztes Aufbäumen im Straßensportsegment bohrte HD Dich für Dein sechstes Leben als XL von 883 auf 1000 ccm auf. Dein Hub von 3 13/16 Zoll blieb unverändert. Damit warst Du mit 60 PS garnicht soweit weg von den beiden neuen Konkurrenten, aber im US-Markt mit seinen damals flächendeckend rigiden 55 mls/hr = 88 km/h kam es darauf auch garnicht so an, sondern vielmehr auf die Beschleunigung von Null auf Hundert, wo Du mit viel mehr Drehmoment in unteren Drehzahlen gegenüber CB750 und SS750 immer noch Sieger bliebst. Ab der Kawasaki Z900 warst Du endgültig nicht mehr konkurrenzfähig und man positionierte Dich mit den unsäglichen siamesischen Auspuffkrümmern in der Chopperecke. Beginnend mit dem Caferacer XLCR als Versuchsträger bekamst Du einen modernen Rahmen, ohne die platzverbrauchsgünstigen und stabilen, aber viel zu schweren Stahlgusselemente. Mit einem neuen Rechten Motorcover versuchte man die seit Vorkriegszeiten aufwendig aussenliegenden Ölpumpen zu verstecken, des gleichen wurde der Öltank hinter neutralem Seitendeckel unter dem Sitz versteckt. Das rechte Motorcover blieb bis MJ 2020 , der schöne Öltank als einzigartiges Designelemente im nassumpfgeschmierten Einheitsbrei kam bereits 1979 wieder zum Vorschein.
Mit dem kleinen Evolution - Twin mit Alu-Topend und Hydrostößeln begann 1986 Dein sechstes eher kurzes Leben, denn mit dem letzmalig 1977 im Ölrücklauf und bei der Lima modifizierten Ironheadblock mit immer noch 4-Ganggetriebe warst Du nur ein Übergangsmodell. Gleichwegs fandest Du ob der neugewonnenen Robustheit Deines Top Ends reißenden Absatz.
Erst ab 1992 hattest Du mit dem Anbruch Deines siebten Lebens Deine endgültige Evo-ReInkarnation gefunden: Du bekamst ein 5-Ganggetriebe, immer noch als aufwendiges Kassettengetriebe, und einen pflegearmen Sekundärzahnriemen. Damit warst Du endgültig zum wartungsärmsten Motorrad der Welt geworden, mit Hydrostößeln, Aussenliegendem Luftfilter und nur einer Drosselklappe.
2004 begann Dein achtes Leben mit Gummilagerung Deines Motorblocks, und ab 2007 schrägverzahntem Getriebe wie bei nur wenigen Premiummotorrädern (kein japanisches) . Zum Kostenausgleich wurde leider die Kassettenbauweise Deines Getriebes aufgegeben. Als letzte Entwicklungstufe bekamst Du 2014 noch ABS. Dein Leben in Europa ist nun in 2020 beendet.
Als neuntes und letztes Leben wirst Du in den USA für zwei Jahre noch ein Zombiedasein fristen. Du warst die langlebigste Konstruktion der Motorradwelt, weil Bill Harley in einzigartiger Vorausschau Dir zukunftsträchtige Anlagen mit auf den Weg gab.
Du wirst mir fehlen.
RIP Sporty
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Verheiz Deine Reifen, nicht Deine Seele!
Dieser Beitrag wurde schon 6 mal editiert, zum letzten mal von motorcycle boy am 18.09.2020 23:57.